Wo das Glück Zuhause ist

Artikel von Bernadette Schwienbacher im “ENGELmagazin

Fernseher gab’s nicht, keine Lillifee und nicht mal die kleinste Puppe.
Aber das Glück einer starken Familie, die auf ihrem Bergbauernhof zusammenhielt – gemeinsam mit 14 Geschwistern, Opa und Oma unterm selben Dach und am Wochenende manchmal 60 Nachbarn, die kurz vorbeischauten und dann doch da blieben.

Bernadette Schwienbacher erzählt die andere Geschichte einer Kindheit in einem einsamen Gebirgsdorf Südtirols, die nicht von Entbehrung jammert und verlorene Jugend beklagt. Sondern uns ein Lebensmodell der Vergangenheit bewusst macht, das Zukunft hat, das viele unserer Probleme lösen könnte. Und sie erzählt von der tiefen spirituellen Weisheit der Bergbauern, die in sich ruhten, bei sich waren.

Wenn Körper und Seele zueinander finden
Als Kind hatte ich mir nicht vorstellen können, dass beide je getrennt sein konnten. Damals war alles am richtigen Platz, alles beieinander. Ich erinnere mich beispielsweise daran, wie gern ich mit meinen Geschwistern im Frühjahr mit Vaters Fernglas zur anderen Talseite hinübergeschaut habe, wo eine Fuchsmutter die ersten Male mit ihren Jungen vor den Bau ging. Jedes Jahr gab es dieses Schauspiel: Sie tobte mit den Kleinen herum, ausgelassen purzelten sie übereinander. Mal vorsichtig und mal wild erkundeten sie die Welt. Eine kleine Welt, die in den Ausschnitt passte, den uns das Fernglas heranholte. Weiter weg gingen sie nicht. Mich beeindruckte es, dass sie mit diesem kleinen Stückchen Welt zufrieden, ja geradezu glücklich waren.
Dass sie dort alles fanden, was sie brauchten. Letztlich ging es mir selbst ja nicht anders. Auf unserem Bergbauernhof im Südtiroler Ultental haben wir uns selbst versorgt.Wir lebten in einem intakten Familienverband und mit einem innigen Bezug zur Natur. Gemeinschaft war für uns selbstverständlich, und sie war auch notwendig. Wie meine vierzehn Geschwister habe auch ich von klein auf mitgearbeitet. Es waren die Natur und der eigene Fleiß, die alles hervorbrachten, was die Familie zum Leben brauchte. Es war ein Leben mit festen Wurzeln, im klaren Rhythmus der Natur.

Wenn ich als Kind abends im Bett lag, war es meist ganz still. Nur der Bach unten im Tal rauschte. Ich liebte dieses Geräusch. Das Wasser, klar und eiskalt, kam von oben aus den Bergen, wo mir jeder Baum und jeder Fels vertraut waren. Wohin es talabwärts weiter floss, in Richtung von Dörfern und Städten, das wusste ich nicht so genau. Das war nicht mehr meine Welt. Meine Welt war die Natur. Die Berge und Wälder im und um das Ultental. Und vor allem der Bergbauernhof meiner Familie mit den umliegenden Feldern und denWeiden für meine geliebten Kühe. Wenn ich abends da so lag, hörte ich auch im Zimmer meine Schwestern leise atmen. In den Räumen nebenan schliefen meine Brüder. Sechzehn Kinder hatte meine Mutter auf die Welt gebracht, jedes Jahr eins.Wir gehörten zusammen, wir konnten uns aufeinander verlassen. Ebenso wie auf unsere Eltern, Menschen, die nicht viele Worte machten und die ihr Leben aus einer tiefen inneren Ruhe und in echtem Gottvertrauen lebten.

Wie es früher üblich war, lebten auch bei uns drei oder sogar vier Generationen unter einem Dach oder zumindest auf einem Hof zusammen. Die Älteren, selbst wenn sie den Hof bereits an ihre Nachkommen übergeben hatten, waren wichtige Ratgeber, auf die gehört wurde. Sie waren hoch geachtet. Wenn ein Älterer sprach, waren die anderen still. Wir Kinder waren immer von Menschen aller Altersstufen umgeben. Von ganz kleinen Geschwistern und solchen, die schon fast erwachsen schienen. Von den Eltern und deren Geschwister. Von den Großeltern und ihrer gewachsenen Lebensklugheit.
Dass meine Eltern oder überhaupt viele Familien der früheren Generationen so viele Kinder hatten, war nicht immer ganz freiwillig. Nachdem ich auf der Welt war, als Kind Nummer sechs, sind meine Eltern zum Pfarrer des Ortes gegangen, weil sie ihm eine wichtige Frage stellen wollten: Wir haben bereits sechs Kinder und das reicht uns. Wäre es in Ordnung, wenn wir uns künftig auch ab und zu begegnen, ohne dass dabei ein Kind entsteht? Der Pfarrer verbot es – Und so kamen noch zehn weitere Kinder. Es war nicht so, dass meine Eltern diesem Pfarrer einfach so gehorchten. Aber sie waren sehr gläubige Menschen und hatten ehrlich Angst, etwas zu tun, was Gott nicht gutheißen würde. Meine Eltern liebten ihre Kinder.
Sie hatten beim Pfarrer diesen Versuch unternommen und nun lebten sie das, was eben ihr Weg war.

Der Hof meiner Familie war im Tal durchaus etwas Besonderes. Meine Eltern führten ein sehr offenes Haus. Nicht nur, dass damals ganz selbstverständlich immer alle Türen offen waren, es war auch jeder, der vorbeikam, ohne Frage eingeladen, mit uns zu essen und den guten Wein zu trinken, den mein Vater von einem Freund aus demTrentino in Holzfässern erhielt. Sehr oft entwickelten sich gerade an den Wochenenden ganz spontane Feiern, die bis tief in die Nacht gingen. Es wurde musiziert und gesungen, getanzt und gelacht. Oft lagen Dutzende Matratzen ausgebreitet auf unserem Dachboden, wo die Gäste schliefen, die es in der Nacht nicht mehr nach Hause geschafft hatten. Nicht selten hatten wir fünfzig oder sechzig Leute zu Gast und meine Eltern versorgten alle mit reichlich Brot, Speck, Wurst, Käse und Wein. Das war ganz selbstverständlich, es war ihnen eine Freude, das zu teilen, was sie hatten.

Meine engste Vertraute über viele Jahre war eine Kuh. Sie hieß Sterna und war meine ganze Kindheit über bei uns.
Sie war wirklich mein Stern. Wenn es mir mal nicht gut ging, wenn ich Kummer hatte oder verärgert war, ging ich in den Stall. Ich brauchte weder meine Mutter noch meine Geschwister zum Reden oder um mich auszuweinen. Das tat ich nie. Ich ging in den Stall zu den Kühen. Alle Tiere standen dort, und als hätte Sterna schon von der Ferne gemerkt, was mit mir ist, war sie die Einzige, die lag. So konnte ich mich auf ihren Rücken legen und dort einfach die Wärme genießen, ihr weiches Fell spüren und ihren Atem hören. Nach einer Zeit ging es mir besser und ich konnte wieder rausgehen.
Schon in jungen Jahren und bis zu meinem Weggang als junge Frau hatte ich die Aufgabe übernommen, für die Kühe zu sorgen. Das hieß, dass ich jeden Morgen als Erstes in den Stall ging – zum Füttern, zum Melken, zum Ausmisten. Tagsüber waren die Tiere draußen und am Abend mussten sie erneut gemolken werden.

Leben, was ist
Wofür ich meinen Eltern heute besonders dankbar bin, ist das Selbstverständnis, mit den Dingen, die gerade da sind, umgehen zu können. Was auch immer passiert ist, ob wir Kinder irgendeinen größeren Blödsinn angestellt hatten, ob ein Geschwister gestorben ist, ob es einen Unfall gab – meine Eltern reagierten aus einer inneren Ruhe und Zentriertheit darauf. Es wurde kein Drama gemacht. Man nahm die Dinge an und handelte entsprechend.
Erst viel später wurde mir bewusst, dass genau das die Weisheit alter Lehren und auch zeitgemäßer spiritueller Lehrer betonen: Mit dem sein, was ist. Es so annehmen, wie es sich jetzt zeigt. Heute müssen das die meisten Menschen in einem langjährigen Prozess wieder lernen – und es ist wunderbar und für die Gesellschaft ebenso wie für die Erde wichtig, wenn es immer mehr Menschen auch tun. Frühere Generationen, die wie meine Eltern und Großeltern lebten, hatten diese Qualität noch, ohne dass darüber gesprochen wurde.

Bei sich sein
Die Menschen früher meditierten, ohne es so zu nennen. Wenn ich mich heute mit all der Meditationserfahrung, die ich seither gesammelt habe, zurückerinnere, dann begreife ich, dass meine Eltern und Großeltern genau das, was die meisten von uns heute durch eine Meditationspraxis erlangen wollen, bereits hatten: innere Ruhe, Gelassenheit, Verbundenheit mit etwas Höherem. Mehrmals am Tag wurde gebetet – das Christentum war sehr stark. Von den Erwachsenen, die ich als Kind erleben durfte, war es aber keinesfalls ein hohles Nachmachen dessen, was der Pfarrer vorgesagt hatte. Es wurde tatsächlich innig gebetet und eine tiefe Kraft daraus geschöpft. Auch die Stille bei Tisch oder abends nach getaner Arbeit, sie war tief und kraftvoll. Selbst das Arbeiten würde ich als meditativ beschreiben. Schritt für Schritt, Handgriff für Handgriff tun, was zu tun ist.

Nach den Glocken leben
In meiner Kindheit orientierte man sich vor allem an der Natur. Dazu kam eine weitere stabile Größe, die wie in allen katholischen Gegenden einen Rhythmus vorgab, an den man sich halten konnte: das Läuten der Kirchenglocken zum Gebet. Wenn die Bauern auf dem Feld arbeiteten und mittags um zwölf die Glocken läuteten, dann legten sie ihr Werkzeug ganz selbstverständlich beiseite, hielten inne, beteten und aßen dann ihr Mittagessen. Das Beten brachte die Menschen von dem, womit sie gerade befasst waren, zurück zu sich selbst. Das Bewusstsein kam wieder im Zentrum des eigenen Wesens, im Zentrum des Lebens an. Ganz einfach gesagt: Man kam wieder zu sich.
Zugleich war das Gebet ein Dank an die Schöpfung, mit dem sich der Mensch letztlich bewusst in der größeren Ordnung verankerte. Denn es ist tatsächlich so, dass ihm dieser Tag mit allem, was zu ihm gehört, auch mit dem gleich folgenden Mittagessen, geschenkt wurde. Dankbarkeit für die Schöpfung und das eigene Leben in sich zu spüren und dies auch zu äußern, bringt viel innere Ruhe und angenehme positive Gefühle mit sich. Und dies ganz regelmäßig vor jedem Essen, einfach weil gebetet wird. Die Mittagspause war so tatsächlich eine Kraftquelle, zumal nach dem Essen auch noch ein wenig geruht wurde.
Da war völlige Stille, die jeder einhielt. Gern lag man unter einem Baum, der spendete Schatten und ebenfalls Kraft.

Gebete für uns heute
Die Grundidee, regelmäßig mehrmals am Tag aus allem Alltäglichen herauszutreten und dankend mit einer höheren Kraft Kontakt aufzunehmen, wäre für viele Menschen heute sinnstiftend und nicht zuletzt auch gut für die Gesundheit. Dieses kleine Ritual unterbricht das meist angestrengte oder hastige Tun und sorgt für kleine Momente der Ruhe und des Zu-sich-Kommens. Genau das, was der Mehrzahl der Menschen heute fehlt.

Miteinander sein
Das frühere Lebensgefühl hängt unmittelbar mit der Gemeinschaft der Familie zusammen. Vor allem waren einfach immer Menschen da- die Eltern natürlich und die Geschwister, dazu viele Nachbarn. Gleichzeitig war aber jeder auf eine ganz eigenartige Weise für sich. Jeder trug für sich selbst die Verantwortung und wusste das auch schon in recht jungen Jahren. Wir waren füreinander da, ganz ohne Zweifel, und doch hatte jeder ganz bewusst sein eigenes Leben und musste sein persönliches Schicksal meistern. Darin haben sich die anderen nicht eingemischt, was auch heißt: Sie haben es einem zugetraut, mit dem Leben umgehen zu können.

Jung und Alt beisammen
Schon die kleineren Kinder haben spielerisch bei den anfallenden Arbeiten mitgeholfen und die Alten haben so lange für die Gemeinschaft und den Hof gearbeitet, bis sie gestorben sind. Ich weiß von vielen Bauern, die bis ins hohe Alter jeden Morgen auf ihr Feld hinausgingen, bis sie eines Tages nicht mehr aufwachten oder draußen auf ihrem Acker für immer einschliefen. Natürlich waren die Arbeiten für die Ältesten nicht mehr die ganz schweren. Sie gaben den Hof frühzeitig an die Kinder weiter, lebten dann aber bis zu ihrem Ende mit dort, meist in einem kleineren Nebengebäude. Sie halfen selbstverständlich weiter mit. Meine Großmutter beispielsweise hat für die gesamte riesige Familie gestrickt.
Und mein Opa hatte seine Bienen. Jeder tat einfach, was er konnte – ob Kind, Jugendlicher, Erwachsener oder Greis, ob stark oder schwach, gesund oder krank.
Drei oder sogar vier Generationen einer Familie unter einem Dach – das verändert nicht nur das Leben, sondern auch das Sterben. Ich bin mir sicher, dass ein großer Teil der Ängste, die die meisten heute vor dem Sterben haben, mit dem Zerfall der größeren Familienverbände zu tun hat. Es ist die Angst davor, im hohen Alter nicht mehr selbstständig für sich sorgen zu können, zu verarmen. Wer hingegen vom ersten bis zum letzten Lebenstag seinen sicheren Platz in einem Familiensystem hat und seine engsten Verwandten zudem immer um sich weiß, der braucht solche Ängste nicht zu haben.

Kind sein
Ich kann mich nicht erinnern, dass wir als Kind in irgendeiner Form Spielsachen gehabt hätten. Und auch an Fernseher oder Computer war nicht zu denken. Genau das empfinde ich als sehr wertvoll. Denn gelangweilt haben wir uns nie. Wir hatten den Hof, die Tiere, die Felder, den Bach, die Wälder, die Berge. All das war unsere Welt und diese ganze Welt war unser Spielplatz. Wenn wir nicht mit der Schule oder mit einer Arbeit beschäftigt waren, waren wir immer draußen unterwegs. Dort gab es Steine und Holz, Tannenzapfen und Wasser. Dort bauten und bastelten wir, machten unsere Erfindungen.

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